Unser Abschied von Lars:
Wir mussten unseren Sohn LARS bereits mit 10 Jahren operieren lassen –
Diagnose: rechtskonvexe Thorakalskoliose. Erst da wurde die Dringlichkeit immer größer – der Druck, nun von den konservativen Methoden Abstand zu nehmen u. bereit zu sein für eine notwendige OP nahm eine fast unerträgliche Dimension an.
Wir fühlten uns in die Enge getrieben – warum konnte nicht auch bei LARS der Verlauf der Behandlung eine Verbesserung für ihn bringen wie bei so vielen anderen Jugendlichen u. Kindern, die wir kannten ? Diese Entscheidung zur OP wurde sehr gründlich von uns überlegt, der behandelnde Orthopäde lehnte jegliche weitere Verantwortung für eine konservative Behandlung ab u. wir sollten LARS in einer Klinik vorstellen.
Wie zu erwarten, riet man uns zur OP u. wir vereinbarten nach einer gründlichen Unter-
suchung den Aufnahmetermin.
Wir hatten für LARS also sehr gute Aussichten, überhaupt die besten für IHN, dass er ENDLICH ohne Korsett in absehbarer Zukunft nach der OP leben konnte
Der große Stress begann aber bereits schon, bevor wir überhaupt die Klinik gesehen hatten – am Telefon. Bei der Abwicklung der Formalitäten musste ich mehrere Telefonate (mind. 8-10) mit den Schwestern der Kinderstation führen (Papiere mit genauem Wortlaut in bezug auf die Arbeitsfreistellung meines Mannes wg. Langzeitaufenthalt usw.) – parallel dazu noch etliche Telefonate mit der Krankenkasse (wg. gleicher Formalitäten!) – wochenlang !
Irgendwann hatten wir alle notwendigen Papiere in der Tasche, als wir mit LARS in die Klinik fuhren – so voller Hoffnung u. Zuversicht !
Der Empfang auf der Kinderstation war freundlich, LARS wurde gleich sein Zimmer gezeigt.
Die Station war zu diesem Zeitpunkt eine Baustelle wegen Umbau. Die Schwestern u. Pfleger freundlich, bis auf wenige Ausnahmen. Wir Eltern hatten ein Zimmer im benachbarten Wohnheim, in dem immer derjenige von uns wohnte, der bei LARS blieb, der andere Elternteil fuhr abends wieder mit unserem kl. Sohn (damals 3 ½ Jahre alt) nach Hause u. kam am nächsten Tag wieder. So konnten wir als Familie im Klinikalltag fast ein normales Leben führen, „nur“ mit der Einschränkung, dass LARS als Vorbereitung auf die WS-OP einen sog. „Halo“ tragen musste u. dazu nur im „Rolli“ sitzen durfte.
Die ärztliche Betreuung bei Eingriffen u. Untersuchungen von LARS war sehr gründlich u. bestätigte uns in der Wahl dieser Klinik. Dagegen gab es regelmäßige Arztvisiten sehr selten auf Station, und wenn eine Chefvisite angesagt wurde, fiel sie auch oftmals wieder aus u. die Patienten warteten vergebens auf eine Ansprechperson.
Nach 2 ½ Monaten fand die 1. OP von LARS statt. Alle Vorgespräche waren abgeschlossen, nur nicht das Gespräch mit dem operierenden Oberarzt, der mich eines nachmittags auf dem Gang ansprach u. fragte, ob ich denn noch Fragen zur OP hätte u. ich sicherlich doch auch keine Fragen mehr hätte – ich ihm daraufhin aber antwortete: doch, Tausende ! Erst dann war es uns möglich, am Abend vor der OP ein präzises Gespräch mit dem Assistents-
arzt zu führen.
Diese 1.OP musste nach 5 Std. abgebrochen werden. LARS wurde auf die Intensivstation verlegt, routinemäßig für 3 Tage, in denen wir LARS so oft wie von uns gewünscht besuchen durften. Jedesmal, wenn wir die Station betraten, war sofort immer die betreuende Krankenschwester da u. beantwortete uns all unsere Fragen. Genauso schnell u. ohne danach fragen zu müssen, waren auch die Stationsoberschwestern da, um uns über den neuesten Stand der Behandlung zu informieren. Mein Mann u. ich hatten von Anfang an vollstes Vertrauen und so entschlossen wir uns, abends immer nach Hause zu fahren. Die Schwestern sicherten uns zu, dass wir jederzeit , d.h. Tag u. Nacht, anrufen durften, um uns nach LARS zu erkundigen.

Nach der Rückverlegung auf die Kinderstation fand zunächst kein aufklärendes Gespräch mit einem Arzt statt, der uns Auskunft über den Verlauf der 1. OP geben sollte. Es war einfach kein Arzt greifbar. Erst nach ein paar Tagen traf uns der operierende Oberarzt auf dem Gang an u. ihm fiel plötzlich ein, dass er mit uns noch kein Gespräch über die OP geführt hatte u. berichtete uns nun darüber – immer noch stehend im Flur !) Ist es unsere Aufgabe, zu verlangen, dass solch ein Gespräch in einer etwas ruhigeren Atmosphäre etwa in einem Büro stattfindet ?
LARS erholte sich prächtig u. sehr schnell – man konnte nicht ahnen, dass er bereits solch eine große OP gerade geschafft hatte ! Er war putzmunter u. gutgelaunt wie eh u. je. Und, er steppte uns allen wieder zu seiner so sehr geliebten „Michael Flatley“- Musik einige Solos vor !
Mein Mann u. ich bekamen die Uneinigkeiten u. Unsicherheiten der Ärzte mit, wann LARS zum 2. Mal operiert werden sollte. 3 lange Wochen verstrichen, dann endlich: die 2. OP !
Wieder routinemäßige Vorbesprechungen mit den Ärzten, darunter auch das zwar sehr ausgiebige u. ruhige Gespräch mit der Anästhesistin, doch ganz kurz vor der von mir zu leistenden Unterschrift sagte sie ganz leise, erst dann (!), sagte sie mir, dass LARS bereits bei der 1. OP „kurz“ reanimiert hätte werden müssen, das sei aber (nach nochmaligem Nachfragen meinerseits) wirklich nur sehr kurz gewesen u. LARS` Herz hätte schließlich auch wieder daraufhin reagiert.
Sofort fühlte ich eine unsichtbare Schlinge um meinen Hals – aber, ich musste ja unterschreiben – die 2. OP war notwendig, der HALO endlich entfernt werden ! Wir hatten keine Wahl ! Wir mussten ihnen erneut vertrauen ! Vertrauen darauf, dass sie wieder richtig handeln würden – das hieße für uns: evtl. wieder abbrechen, sobald die OP-Situation unseres Sohnes erneut kritisch werden würde. Diese OP sollte nun lediglich nur noch 1 – 1 ½ Std. dauern, mehr nicht mehr.
Doch es kam alles anders………….
Nachdem mein Mann LARS bei seiner 1. OP morgens bis zum OP-Saal begleitet hatte, war für uns klar, dass ich diesesmal bei den Vorbereitungen auf LARS` 2. OP dabei sein werde.
Wer immer mir auch die Kraft gegeben hat, mit LARS an diesem Morgen diesen Weg gemeinsam zu gehen, dem danke ich aus der Tiefe meines Herzens – hätte ich es nicht getan, wäre die große Lücke heute nochmals um ein vielfaches größer !
So brachten wir, eine Schwester, der operierende Assistensarzt u. ich LARS gemeinsam gegen 7.30 Uhr zum OP bis zur Schleuse. Alles lief ruhig u. bestimmt ab, auch, als wir noch ca. 10 Min. bis zur Übergabe warten mussten. Dann wurde LARS von der Anästhesistin übernommen u. sie winkte mir noch beim Weggehen zu, so, als ob sie sagen wollte, dass alles schon gut werden wird….
Ich lief zurück zum Wohnheim, wo mein Mann u. unser kl. Sohn warteten. Wir packten alles ein, denn wir sollten heute ja hier ausziehen, endlich wieder nach Hause fahren können.
Wir hatten LARS versprochen, diesesmal im Flur vor dem OP auf ihn zu warten, zumal wir ihn bereits etwa um die Mittagszeit zurück erwarten durften. Die OP sollte nicht mehr länger dauern als 1 – 1 ½ Std.
Und so warteten wir drei, jedoch länger, sehr viel länger, als wir jemals ahnen konnten. Stunde um Stunde verging, immer häufiger fragten uns Mitpatienten der Station, ob denn LARS noch nicht zurück sei. Unsere Antwort war immer die Gleiche: nein. Wir hörten Hubschrauber landen u. wegfliegen, nichts ungewöhnliches in dieser Klinik – vielleicht ein Notfall ? Und immer wieder das Nachfragen der Mitpatienten nach LARS – unsere Nervosität steigerte sich mit jeder Stunde mehr. Ca. gegen 16 Uhr fragte ich mal auf der Station nach u. sagte, dass es heute aber sehr lange dauern würde, worauf der Pfleger nur bestätigte, ja, es würde lange dauern. Mehr Antwort kam nicht.
Ich verlangte den Schlüssel zum Schulraum, wir hatten schließlich noch unseren kl. Sohn mit dabei, und für ihn wurde die Situation natürlich auch immer unerträglicher. Nach ca. 1 Std
setzten wir uns wieder raus auf den Flur – keine Information – nichts ! Wo nur blieb LARS so lange – ich hatte solche Angst, er würde gelähmt sein, irgendetwas mit den Stäben, die sie einsetzten, könnte nicht stimmen – vielleicht müssen sie dazwischen röntgen ? ? oder, oder ?? Die Mitpatienten fragten inzwischen noch besorgter, wollten uns Mut zusprechen, es sei sicher ein Notfall dazwischen gekommen, denn man höre ständig Hubschrauber starten u. landen. Warum kommt kein Arzt – warum keine Informationen ? Ständig laufen Ärzte an uns vorbei – wir sehen auch, dass der Pfleger ein paar Mal zum OP läuft u. wieder zurückkehrt – kein Wort, nur warten, warten, warten…..
Dann, endlich, ca. gegen 17.30 Uhr kommt das ganze Ärzteteam aus dem OP, langsamen Schrittes – ich springe auf in der Erwartung erleichterter Gesichter … doch wir sehen etwas ganz anderes – ernste Gesichter, die Schritte langsam u. überlegt kommt die Ärzteschar auf uns zu, diese Gestik…! Was dann folgt, ist wie ein unbeschreiblich schlechter Film: die Anästhesistin steht direkt vor uns, will mir die Hand geben – in sekundenschnelle erfasse ich die ganze Situation, ich weiss alles, sie braucht kein einziges Wort zu sagen !
Nun bricht alles aus mir heraus, die ganze Anspannung, das lange Warten, diese grausame Beraubung, es kann nicht sein ! Ich schreie, ich tobe, ich nehme meine Umwelt nicht mehr wahr! Die ganzen Ärzte stehen wortlos da, wie angewurzelt, müssen sie meine Verzweiflung über sich ergehen lassen – und, es ist nicht von kurzer Dauer. Doch irgendwann – endlich – dürfen wir LARS sehen, zu ihm gehen – ich muss ihn halten, ihn in den Arm nehmen, einfach bei ihm sein. Und unser kl. Sohn erlebt alles mit ! Er fragt uns, ob LARS schläft – und in dieser Situation können wir dies nur bejahen.
Sie lassen uns so viel Zeit, wie wir brauchen. Ein Pfleger ist ständig in unserer Nähe, fragt immer wieder nach, ob er gehen soll oder noch bleiben darf, schließlich sei LARS auch sein Freund gewesen. Natürlich kann er bleiben, denn LARS mochte auch ihn sehr.
Später, im absoluten Schockzustand, fragen wir einen Arzt, was passiert sei. Ich kann nicht alles aufnehmen, kann mir nur behalten, dass sie LARS 4 Std. reanimiert hätten und die Erklärung, dass dies bei Kindern länger gemacht wird als sonst üblich ist. Nun bin ich die Gelähmte, ich fühle nur noch Starre u. Schock.
Sie schicken uns einen Seelsorger, doch wir lehnen ab, wir wollen einfach allein sein mit unserem Sohn, nur bei ihm sein. Wir verständigen unsere Eltern – meine Mutter u. meine Schwester kommen sofort. Wir bleiben alle sehr lange bei LARS. Der Pfleger gibt uns für die Nacht, für den Notfall, dass wir nicht schlafen können, Beruhigungstabletten mit.
So müssen wir doch nochmals eine Nacht im Wohnheim verbringen, wir sind alle zu erschöpft, um noch nach Hause zu fahren.
Am nächsten Morgen gehe ich auf Station – ich muss das alleine tun – und hole LARS` Sachen aus dem Zimmer. Eine Schwester fragt nach, ob mir jemand helfen soll, aber ich will das ganz alleine tun. Ich möchte nur gerne persönlich mit der Ergotherapeutin sprechen, die auch sofort da ist. Sie übergibt mir all die handwerklichen Arbeiten von LARS, ich dürfe alles mitnehmen, auch den Webrahmen u. die dazu verwendete Wolle. Ich bin ihr unendlich dankbar. Sie hat mir gerade unschätzbare Dinge übergeben, sie sind wie Edelsteine für mich.
Mit all den persönlichen Sachen von LARS verlasse ich sein Zimmer, gehe zum letzten Mal diesen langen Gang der Station ab, die Station ist wie ausgestorben, niemand spricht mich an. Dann nochmals ein Riesenschreck, als ich an der Scheibe des Schwesternzimmers vorbei gehe, sehe ich die kleine Halskrause, die LARS nach dieser OP hätte tragen müssen, vorne liegen ! Wie taktlos, warum hat sie niemand weggelegt ? Ich bin fast versucht, sie mitzunehmen, aber ich lasse dann doch ab davon.
Wieviel seelischen Schmerz hält ein Mensch aus ?
Wir erhielten dann die Nachricht, dass es eine Untersuchung der Staatsanwaltschaft geben wird, die Akten wurden beschlagnahmt. Für uns ein weiterer Schock – was hat das alles zu bedeuten ? Wer erklärt uns das alles ? Von seitens der Klinik niemand.
Mit einem Arzt u. einem Pfleger besprechen wir, ob wir LARS jeden Tag besuchen dürfen – wir dürfen - und es wird uns ein Zimmer zur Verfügung gestellt, wenn auch im Keller, in dem wir LARS besuchen können. Bis zur Freigabe vergehen 4 Tage u. das Wichtigste in diesen Tagen ist, dass wir wenigstens eine bestimmte Zeit des Tages bei LARS sein können!

Der Seelsorger der Klinik war eine sehr große Hilfe, nicht nur für uns !
Er fragte uns, ob wir damit einverstanden seien, wenn er mit den anderen Kindern der Station für LARS zum Abschied Bilder malt oder die Kinder ihre eigenen Worte niederschreiben lässt. Am Freitag würde er dann eine gemeinsame Gedenkstunde halten und wir hätten die freie Wahl, daran teilzunehmen. Gleichzeitig wies er uns aber auch darauf hin, dass wir uns bewusst sein sollen, dass alle Ärzte, Schwestern, Pfleger u. die Patienten der Station da sein werden. Das half uns bei der Entscheidung : natürlich wollten wir daran teilnehmen, auch wenn es eine sehr schwere Stunde werden würde, aber, wir taten es für unseren Sohn, für LARS. Es wurde eine würdige, schön gestaltete Stunde, mit einfühlsamen Worten u. auf dem Boden vor uns lag ein übergroßes Bild, zusammengesetzt aus vielen Einzelbildern u. Texten. Jedes Kind trug etwas dazu bei u. so lag vor uns ein überwältigendes Bild mit vielen guten Gedanken u. Wünschen für LARS.
Nach 4 langen Tagen des Wartens kam die Freigabe der Staatsanwaltschaft, konnten wir LARS endlich aus der Klinik abholen. Doch so schnell, wie wir uns das vorgestellt hatten, ging das nicht. Auf der Station angekommen, in Begleitung des Bestatters, wurden wir ins Schwesternzimmer gebeten, in dem uns der betreuende Anästhesist empfang. Wir konnten nicht erahnen, was er noch mit uns besprechen wollte.
Doch sein 1. Satz setzte uns einen zweiten großen Schock hinzu ! Er sagte zugleich: „Der Mensch Lars lebt nicht mehr……“ u. erklärte uns, dass sie alle letztlich nicht ganz genau wüssten, warum LARS nicht mehr zu reanimieren war. Nun war uns schlagartig klar, dass sie eine Obduktion wollten ! Wir waren zutiefst geschockt ! Ein Arzt, den wir in den ganzen vergangenen 4 Monaten so sehr geschätzt hatten, der gewissenhaft u. vertrauenswürdig für uns war, zeigte uns nun sein völlig anderes Gesicht.
Mein Mann konnte nicht sprechen u. ich hörte mich nur noch fragen, ob denn tatsächlich auch die genaue Todesursache geklärt werden könnte. Er antwortete, dass sicherlich ein Ergebnis dabei herauskäme, aber 100%-ig könne er es auch nicht versprechen. Seine Ehrlichkeit war für uns eine weitere große Hilfe für unsere Entscheidung.
Er erhoffte sich von uns Verständnis dafür, dass dieses Ergebnis der Medizin u. allen nachfolgenden Patienten dienen könnte. Wir hatten keine Worte mehr – dieses Gespräch war für mein Mann u. mich eine Zumutung u. wir litten sehr sehr lange unter dieser Art und Weise, wie sich dieser Arzt uns gegenüber ausdrückte !
Ist der Mensch nach seinem Tod nur noch ein Stück Ware, mit dem man handeln u. experimentieren kann ? Wir fragen uns oft, wo die Achtung gegenüber einem Menschen, wo die Ethik geblieben ist.
Aus unserer Erfahrung heraus, „klagen“ wir, zumindest diesen Arzt, an, nicht mit dem Sterben u. dem Tod eines Patienten u. dessen Angehörigen umgehen zu können – WARUM ?
Müssten doch gerade diese Ärzte sich der Tatsache bewusst sein, dass der Tod in der Klinik ganz schnell nahen kann.
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